Intelligent wohnen und arbeiten.

Judit Solt ist Chefredaktorin von TEC21 – Schweizerische Bauzeitung. Corona beeinflusst ihre Arbeit, aber auch die der Baubranche. Wie sie die Zeit erlebt hat und welche Lehren wir alle langfristig daraus ziehen sollten, verrät sie im Interview.

Text Isabella Awad, Sarah Büchel Foto zVg.

Judit Solt, wie haben Sie die letzten Wochen erlebt?

Manchmal tut man Dinge zum richtigen Zeitpunkt: Anfang März haben wir unsere Produktionsabläufe auf einen möglichen Lockdown hin geprüft. Just in jener Woche, als wir sie erproben wollten, wurde der Lockdown tatsächlich verordnet. Die Generalprobe wurde also zur Premiere. TEC21 ist eine Fachzeitschrift für Planerinnen und Planer, die wöchentlich als Printmedium erscheint. Das dezentrale Arbeiten ist für eine interdisziplinäre Redaktion, wie wir sie sind, eine Herausforderung: Fachübergreifende Diskussionen im Team sind ein zentraler Teil unserer Arbeit. Aber es funktionierte: wir hielten die Produktion über die ganze Zeit hinweg aufrecht.

Gibt es Themen, die für Sie und auch für Ihr Umfeld an Bedeutung gewonnen haben?

Das Wohnumfeld: Die sehr intensive Nutzung während des Lockdowns hat die Stärken und Schwächen unserer Wohnsituationen in aller Deutlichkeit gezeigt. Daraus kann die Baubranche lernen.

Wovon braucht es mehr oder weniger, wenn Homeoffice und weitere flexible Arbeitsformen alltagstauglich sein sollen?

Es braucht Wohnungen und Quartiere, die unterschiedliche und auch ungeplante Nutzungen zulassen, also flexible Grundrisse, Pufferbereiche, Rückzugsmöglichkeiten, private und öffentliche Aussenräume, Begegnungszonen, dazumietbare Räume, etc. Dabei geht es nicht nur um Quantität, sondern auch um Qualität. Wohnungen aus der vorletzten Jahrhundertwende sind ein gutes Beispiel: Sie haben ähnlich grosse Zimmer, die meist über mehrere Zugänge verfügen, so dass man sie für alles Mögliche nutzen kann, eine Küche, in der auch ein kleiner Tisch Platz findet, sowie einen Balkon. In diesen Wohnungen kann man in diversen Konstellationen wohnen oder arbeiten. Solche Prinzipien lassen sich in die heutige Zeit übertragen. Funktionalistische Wohnungen mit winzigen Laborküchen oder offene Grundrisse ohne Rückzugsmöglichkeit dagegen werden zum Problem, sobald man sie anders brauchen will als vorgesehen.

Welche zusätzlichen Anforderungen an Funktion und Ausstattung sollten Unternehmen künftig bei der Planung von Bürogebäuden berücksichtigen?

Wenn man im Team arbeitet, sind Grossraumbüros durchaus Sinnvoll; auch hier braucht es aber Rückzugsmöglichkeiten. Für andere Aufgaben sind Einzelbüros besser. Generell sind viele Arbeitsplätze nicht besetzt, und dieser Trend wird sich verstärken. Der funktionalistische Städtebau mit der Trennung von Wohn- und Arbeitsquartieren hat ausgedient.

Wie sieht es mit öffentlichen Aussenräumen aus?

Hier sollen sich Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen wohlfühlen. Ein optimaler Aussenraum bietet Wasser, Schatten und Sitzgelegenheiten. Der Irchelpark in Zürich ist ein gelungenes Beispiel: Es gibt offene Flächen, versteckte Ecken, einen Teich, Obstbäume, Gebüsch. Man trifft Spaziergänger, Studierende und Senioren, Joggerinnen, Familien die am Grillieren sind, und abends machen junge Leute Party. Solche Anlagen benötigen intensive Pflege, sind aber sehr wichtig, je dichter die Stadt, desto wichtiger.

Welche Chancen sehen Sie für die Baubranche in der nahen Zukunft?

Die Aufgaben werden sich ändern. Das revidierte Raumplanungsgesetz verlangt einen haushälterischen Umgang mit dem Boden, es gilt also bestehende Siedlungen zu verdichten. Um die Klimaziele und die Energiestrategie des Bundes umzusetzen, müssen viele Gebäude energetisch erneuert werden. Beides geht nur, wenn man sich mit dem Bestand auseinandersetzt, und zwar auf hohem baukulturellen Niveau. Dichte wird nur dann akzeptiert, wenn sie nicht nur mehr Baumasse, sondern auch mehr Lebensqualität mit sich bringt.

Uno-Prognosen verheissen, dass bis 2050 70% der Menschen in Städten leben werden …

Ja, genau. Schon heute sind es über 50%. Umso wichtiger ist es, dass die Städte lebenswert gestaltet sind, mit einer guten Infrastruktur, einer nachhaltigen Energieversorgung und hochwertigen öffentlichen Räumen.

Welche Erfahrungen zieht die Baubranche aus den aktuellen Entwicklungen?

Planerinnen und Planer nehmen sie ernst: nicht nur die Corona-Krise, sondern auch den Klimawandel. Dieser ist langfristiger und daher weniger greifbar, aber seine Auswirkungen sind viel dramatischer. Der Bau und der Betrieb von Gebäuden verursachen weltweit rund 40 Prozent der Treibhausgase, die Baubranche muss also schleunigst reagieren.

Wer muss zusammenarbeiten, damit das Realität wird?

Alle Beteiligten, und zwar mit Know-how, Willen und Mut: Nachhaltiges Bauen ist nicht immer die billigste Variante, sorgfältig gestaltete Bauten setzen eine sorgfältige Planung voraus, Grünanlagen sind teurer im Unterhalt als Kieswüsten, Baukultur gibt es nicht gratis. Langfristig gesehen zahlen sich diese Investitionen aus, doch die Gesellschaft muss dieses nahhaltige Bauen zuerst wollen, die Politik muss es einfordern und die Bauherrschaft es beauftragen; erst dann können die Architekten und Ingenieurinnen solche Projekte realisieren.

viva. aufbauen.