Die Krux mit der Diversität.
Interview Andreas Notter
Fotos Anna-Tina Eberhard, St. Gallen
Die Krux mit der Diversität.
Interview Andreas Notter
Fotos Anna-Tina Eberhard, St. Gallen
Wiedereinsteigerinnen und Ältere hatten kaum je bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Das sagt Gudrun Sander, Direktorin des Kompetenzzentrums für Diversität und Inklusion an der Universität St. Gallen (HSG). Trotzdem sei die Schweiz in vielerlei Hinsicht ein «Entwicklungsland», wenn es um Diversität und Chancengerechtigkeit geht.
Unternehmen sollten bei der Personalselektion auf die Vielfalt von Menschen und Lebensformen achten – unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Alter oder Werten. Ist «Diversity» mehr als ein Konjunkturthema?
Ja, die Diversität und die damit verbundene Chancengerechtigkeit haben in den letzten Jahren neuen Schwung erhalten, zum Beispiel durch die Anpassungen im Gleichstellungsgesetz zum Nachweis der Lohngleichheit oder durch neue Transparenz-Vorschriften bei Umwelt-, Sozial- und Governance-Themen. Die Verwaltungsräte und Geschäftsleitungen sind stärker sensibilisiert. Gleichzeitig haben gemischte Teams die Nase vorn, wenn es um Innovationen geht.
Ein Treiber der Diversität ist auch der Fachkräftemangel. Unternehmen sind heute eher bereit, Personen einzustellen, die früher geringere Chancen hatten. Wer profitiert?
Deutlich bessere Chancen haben heute generell alle Frauen und besonders die Wiedereinsteigerinnen, Menschen über 50 und Personen mit ausländisch klingenden Namen. Wir müssen die verschiedenen Talentpools besser nutzen, wenn wir den Wohlstand in der Schweiz erhalten wollen.
Was können Arbeitgeber tun, um zu Fachkräften zu kommen?
Wo immer möglich Flexibilität bieten. Es braucht neben flexiblen Arbeitsmodellen auch flexiblere Karrierewege. Wieso sollen Karrieren schon mit 45 Jahren auf dem Höhepunkt sein? Wieso gelten «High-Potential-Frauen» nach der Geburt eines Kindes nicht mehr als «high potential»? Weitsichtige Firmen hatten den Vaterschaftsurlaub bereits eingeführt, bevor er gesetzlich vorgeschrieben war. Letztlich sind aber alle Unternehmen gezwungen, sich den neuen Bedürfnissen anzupassen.
Früher hatten über 50-Jährige oft Mühe, eine neue Stelle zu finden. Hat sich das geändert?
Fundamental. Sie gehören ebenfalls zu denjenigen, die vom Fachkräftemangel profitieren. Viele Firmen möchten inzwischen Leute über die Pensionierung hinaus im Unternehmen halten. Aber auch hier braucht es flexible Modelle, denn diese Leute wollen vielleicht nicht mehr Vollzeit oder in einer Führungsposition arbeiten. Arbeitgeber sind gut beraten, sich auf die verschiedenen Lebenssituationen ihrer Mitarbeitenden einzulassen.
Wo steht die Schweiz in Sachen Diversity?
Im Bildungsbereich steht die Schweiz bei der Geschlechterdiversität sehr gut da. Beim Thema Frauen in Führungspositionen gibt es noch viel zu tun und was die Kinderbetreuung angeht, sind wir teilweise noch ein Entwicklungsland. Dies hat mit den sehr traditionellen Rollenerwartungen zu tun. Viele Frauen erachten es noch immer als Privileg, nicht arbeiten zu müssen. Chronisch unterschätzt wird auch der Rassismus. Auch hier besteht Handlungsbedarf, wenn wir immer häufiger mit Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft zusammenarbeiten.
Prof. Dr. Gudrun Sander ist Titularprofessorin für Betriebswirtschaftslehre, Direktorin des Kompetenzzentrums für Diversität und Inklusion (CCDI) und Direktorin der Forschungsstelle für Internationales Management an der Universität St. Gallen (HSG). Seit drei Jahrzehnten engagiert sie sich für «Diversity, Equity and Inclusion» in Forschung, Praxis, Lehre und Weiterbildung.
«Gleichzeitig haben gemischte Teams die Nase vorn, wenn es um Innovationen geht.»
Welche Anpassungen würden Sie empfehlen?
Kinderbetreuung muss bezahlbar werden. Dies unterstützen auch wirtschaftsnahe Kreise, um die vielen gut ausgebildeten Frauen im Arbeitsmarkt zu halten. Dann müssten Steuer- und Vorsorgesysteme Anreize schaffen, um Frauen und Ältere länger im Arbeitsprozess zu behalten. Und es müsste akzeptiert werden, dass auch Teilzeit arbeitende Männer Karriere machen können. Teilzeitarbeit ist das «neue Normal». Automatische Stereotype, die tief verwurzelt sind, prägen uns alle. Diese so genannten «Unconscious Biases» gelten gemeinhin als Verhinderer der Diversität. Diese «Biases» muss man sich vorstellen wie unbewusst eingeübte Verhaltensmuster. Es ist zwar einfach zu sagen, wir wollen mehr gemischte Teams oder mehr Frauen in Führungspositionen, aber diese Muster stehen uns dann im Weg. Mehr Diversität fordert uns heraus, über diese Muster und Stereotype nachzudenken.
Wie kommt es zu diesen Mustern?
Unser Gehirn ist dazu konditioniert, schnell zu entscheiden. Das hat unser Überleben gesichert. Über 90 % unserer Entscheidungen machen wir intuitiv, automatisiert und ohne gross nachzudenken. Unser Gehirn macht Vereinfachungen. Eine solche Vereinfachung ist, alte Muster vorzuziehen, um schnell entscheiden zu können. Wer bei einer Rekrutierung nach drei Minuten weiss, ob die Person zum Unternehmen passt, läuft Gefahr auf «Unconscious Biases» reinzufallen. Damit werden leider viele Talente übersehen.
Wie kann man diese Stereotypisierungen bei der Rekrutierung verhindern?
Indem man Kriterien festlegt und Vorstellungsgespräche standardisiert, um eben die Vergleichbarkeit zwischen Kandidatinnen zu ermöglichen. HR sind in einer Schlüsselposition, nicht nur bei der Personalrekrutierung, sondern ganz generell bei der Sensibilisierung der Vorgesetzten in Bezug auf Diversity-Themen.
Welche Branchen sind gute Beispiele für fortschrittliche Diversität und wie zeigt sich das?
Im Rahmen des Gender Intelligence Report, nachzulesen auf www.advance-hsgreport.ch, haben wir anonymisierte HR-Daten von 104 Firmen ausgewertet. Erstaunt hat mich, dass die Maschinenbau- und Elektroindustrie sehr fortschrittlich ist. Zwar beträgt der Frauenanteil im unteren und mittleren Management nur rund 19 %, doch schaffen es 16 % ins Top-Management. Banken haben prozentual gleich viele Top-Managerinnen, in den unteren Führungsfunktionen aber doppelt so viele Anwärterinnen, die den Schritt nicht schaffen.
Diversität prägt immer mehr auch unsere Sprache. Was halten Sie von Genderstern, Unterstrich oder Doppelpunkt?
Positiv daran finde ich, dass eine Sensibilisierung passiert. In der Umsetzung sollte man jedoch pragmatisch sein. Es ergibt wenig Sinn, sich in den Diskussionen auf Gendersterne einzuschiessen, statt die wirklich dringenden Probleme im Bereich Chancengerechtigkeit und Umgang mit Diversität zu lösen.