«Sag einfach Jena-Marie!»
Ihr Lachen haut einen um. Es kommt aus tiefstem Herzen. Obwohl dieses Herz viele Jahre gefangen war, seine wahren Gefühle versteckte. Stark. Diese unterdrückte Energie will jetzt raus und steckt an. Das ist die Geschichte von Jena-Marie, Helvetia Mitarbeiterin.
Text Isabella Awad Fotos Dan Cermak, Zürich
Jena-Marie Bosselmann arbeitet bei Helvetia bei Special Portfolio Claims und reguliert dort Schäden vor allem im Bereich der globalen Recycling-Industrie und auch Cyberversicherung. Das ist ihr Beruf und ihre Passion. Vor 30 Jahren ist sie in das Metier der Schadenbearbeitung eingestiegen. Vor drei Jahren hiess Jena-Marie noch Jens und lebte als Mann.
Jens
Jens ist 1966 in Freiburg (D) geboren, hat dort die Schulen besucht, Matura gemacht und sich später für den Zivildienst entschieden – 20 Monate Altenpflege. Das Thema «Arbeiten mit Menschen» interessierte ihn und so liess er sich zum Versicherungskaufmann ausbilden.
Jena-Marie
Ich habe wenig Erinnerungen an meine Kindheit. In der Pubertät habe ich gespürt, dass ich «anders» bin. Ich spielte und unterhielt mich gerne mit Mädchen. Technik hat mich gleichermassen fasziniert wie schöne Klamotten, Farben und Schminke.
Jens
Mit einem der besten Abschlüsse seines Jahrgangs ergatterte Jens sich eine Traineestelle und suchte sich Kiel als Arbeitsort aus. Adieu Heimat, rauf ans Meer!
Jena-Marie
Ich wollte es «wegdrücken», doch es kam immer wieder hoch. Ich hatte Angst, darüber zu reden – kam hinzu, dass in den 1980ern niemand Begriffe wie Transgender kannte, es weder Internet noch sonstige Informationsstellen gab. Ich wusste ja selbst nicht, was mit mir passiert – in welchen Worten es also anderen erklären? Nach Kiel zu ziehen, war für mich eine Befreiung. Da habe ich im Kleinen angefangen, mein zweites Leben zu führen.
Jens
Jahre später heiratete Jens und hatte als Schadeninspektor in Berlin Erfolg. Da packte ihn die Lust, sich mit 31 seinen Traum zu erfüllen: ein Architekturstudium. Nach dem Abschluss im Jahr 2002 mangelte es jedoch an Stellen und er arbeitete ein paar Jahre selbstständig, spezialisierte sich auf Schäden am Hochbau. 2007 startete er bei Nationale Suisse im Schaden für technische Versicherungen und zog nach Basel. Inzwischen geschieden und allein. Jens liebte die Musik. Ihr konnte er sich immer hingeben und fühlte sich gut dabei. Hauptsache Electro, auch Motown oder R & B.
«Ich wusste ja selbst nicht, was mit mir passiert – in welchen Worten es also anderen erklären?»
Jena-Marie
In Wellen kam dieses Unwohlsein, mich im falschen Film zu fühlen. Ich konnte niemand nach Hause einladen, weil ich eine «Mädchenwohnung » hatte. Ich lebte in der ständigen Unruhe, aufzufliegen. «Verdammt, leb es doch!», sagte der Engel und der Teufel widersprach: «Denk an deine Karriere, drück es weg!»
Jens
Für sein Verhalten, das schon immer etwas sanfter, emotionaler war, als es von einem Mann «erwartet» wird, kassierte Jens seit seiner Kindheit immer wieder Sprüche. Zögerlich versuchte er, das Weibliche auszuleben. Er brauchte Fluchtpunkte, nahm sich später Auszeiten, mietete sich Ferienapartments in Berlin und tauchte unter in der Anonymität der Grossstadt.
Jena-Marie
Mein Koffer war voll mit Frauensachen. Ich zog mir ein Kleid an, schlüpfte in Schuhe mit hohem Absatz, setzte eine Perücke auf und schminkte mich. Ich war glücklich! So schlenderte ich durch Berlin. Die Menschen in dieser Stadt gehen locker mit dem «Anderssein» um, ich fühlte mich sicher. Ich begegnete tollen Menschen, jemand machte mir sogar Komplimente, das gab mir Kraft. Im Herbst 2019 entschied ich spontan, dass ich als Frau nach Basel zurückfahre.
«Meine jahrelange Angst hatte sich in Luft aufgelöst.»
Jens
Jens outete sich. Er sprach Freunde, Familie, Vorgesetzte und Arbeitskolleginnen direkt an: Sagt euch der Begriff Transgender etwas? Er erklärte und sagte, er sei Teil davon. Mit seinen betagten Eltern schaute er Filme zum Thema, suchte Bücher. So setzte er seine Transition in Gang – für sein Umfeld und für sich selbst: recherchierte Adressen von Psychologen, Endokrinologen, einem Gesichtschirurgen. Nahm Kontakt auf mit der Krankenkasse, um die Deckung der anfallenden Kosten zu klären.
Jena-Marie
Die Reaktionen der Menschen waren sensationell: herzlich, verständnis- und respektvoll. Meine jahrelange Angst hatte sich in Luft aufgelöst. Ein Gefühl, als ob sie dir einen zu engen Panzer um die Brust aufbrechen. Bei meinem Coming-out gegenüber einer meiner Cousinen kam die Frage nach meinem neuen Namen auf – bei einem gemütlichen Glas Rotwein ist dann aus Jens Jena-Marie entstanden.
Ich bin glücklich. Ich kann heute ich selbst sein. Ich fühle mich gerade wie eine Teenagerin, die ihren Körper und ihre Gefühle neu entdeckt. Ich bin mir bewusst, dass ich eine Frau bin, die als Mann sozialisiert wurde. Das ist meine Geschichte. Biologisch bin ich nun angekommen, jetzt beginnt das seelische Verarbeiten. Ein Psychologe sagte mir: «Das Gehirn verändert sich langsam und die Seele benötigt noch mehr Zeit.»
«Ich will eine Frau sein, nicht Frau spielen.»
Nach mehreren operativen Eingriffen machte Jena-Marie vor ein paar Wochen den letzten Schritt, um physisch eine Frau zu werden. Davon erholt sie sich zurzeit. Ihre Geschichte soll Mut machen, zu sich selbst zu stehen. Es ist ihr ein grosses Anliegen, Helvetia zu danken, dass sie sich als Unternehmen dem Thema Diversity annimmt und hier Flagge zeigt. Ihr Dank geht auch an ihre Vorgesetzten, den Vielfalt Council, Kolleginnen und Kollegen, die sie so akzeptieren, wie sie ist.
Alles über Vielfalt@helvetia und den Helvetia Vielfalt Council im Helvetia Intranet allegra.