Gut schlafen ohne App.
Interview Isabella Awad und Sarah Büchel Foto Jorma Müller, Zürich
Gut schlafen ohne App.
Interview Isabella Awad und Sarah Büchel Foto Jorma Müller, Zürich
Daten können viel, müssen sie aber nicht immer. Dr. Jakub Samochowiec, Sozialpsychologe und Researcher am Gottlieb Duttweiler Institut (GDI) in Rüschlikon, plädiert dafür, Technologie nicht als etwas anzusehen, das uns zustösst, sondern mitzubestimmen, wie wir sie verwenden wollen.
«Je mehr man kontrollieren kann, desto mutiger scheint es, das nicht zu tun.»
Jakub Samochowiec, die Welt wird immer transparenter. Welchen Einfluss hat das auf den Menschen?
Die Bereitschaft, private Informationen über sich preiszugeben, steigt. Auf Social Media führt das zu einem ständigen Vergleich, der sogar Depressionen verursachen kann, da andere ein spannenderes Leben zu haben scheinen als man selbst. Die digitale Transparenz kann auch Kontrollmechanismen hervorbringen. Der sogenannte Neo-Taylorismus beschreibt das Phänomen, dass man Arbeitstätigkeit durch digitale Erfassung optimieren möchte. Beispiele dafür sind Algorithmen, welche kontrollieren, ob Mitarbeitende zuhause tatsächlich arbeiten. In Amazon-Warenhäusern werden Mitarbeitende automatisch entlassen, wenn sie nicht schnell genug arbeiten. Dies soll in Zukunft über ein patentiertes Armband funktionieren, welches Armbewegungen tracken kann.
Macht uns die Transparenz asozialer?
Jein. Bei Krankenversicherungen können solche Daten zu einer Entsolidarisierung führen. Sie versprechen nicht nur, Erkrankungen besser zu prognostizieren. Sie erlauben auch zu überprüfen, ob Menschen ihr Verhalten aufgrund solcher Prognosen anpassen. Dieses Wissen kann verwendet werden, um Menschen die Schuld für ihren schlechten Gesundheitszustand zu geben und ihre Prämie zu erhöhen – sie haben ja gewusst, dass sie krank werden und nichts dagegen unternommen.
Aus denselben Daten können wir aber auch herauslesen, dass viele gesundheitliche Probleme der Struktur der Gesellschaft geschuldet sind und nicht dem Charakter des Individuums. Wer wenig Geld hat, an viel befahrenen Strassen wohnt und keine Grünflächen in der Nähe hat, lebt ungesünder. Daten könnten uns also genauso gut auch solidarischer machen. Entscheidend ist, mit welcher Absicht wir sie verwenden.
Haben sich die Grundbedürfnisse in Bezug auf Sicherheit verändert?
Je mehr man kontrollieren kann, desto mutiger scheint es, das nicht zu tun – etwa in ein Restaurant zu gehen, ohne zuvor dessen Rating zu überprüfen. Diese Kontrolle ist einerseits vernünftig, wenn man sicher lecker essen will. Andererseits können so aber auch Erlebnisse verpasst werden. Denn diese digitalen Tools verschaffen uns einfache, problemfreie Erlebnisse. Das ist nicht unbedingt dasjenige, an welches wir uns im Nachhinein erinnern. Denn für Geschichten, die eigene «Heldenreise», braucht es die Überwindung von Hindernissen – das Missverständnis, den verpassten Bus, das undefinierbare Essen. Es heisst nicht umsonst «Bad decisions – good stories». Mehr Daten können die schlechten Entscheidungen und damit auch die guten Geschichten verunmöglichen.
Gibt es die gesellschaftliche Gegenbewegung, dass Personen sich weigern, ihre Daten zur Verfügung zu stellen?
Die gibt es bestimmt. In der Grundversicherung haben wir uns beispielsweise als Gesellschaft dazu entschieden, Daten nicht für die Prämienbestimmung zu nutzen. Oft ist die Sorge um Datenschutz aber ein elitäres Verhalten. Es braucht Zeit, Bildung und Ressourcen, um sich damit auseinanderzusetzen, was mit den eigenen Daten passiert. Ausserdem muss man es sich zunehmend leisten können, keine Daten zu teilen. Denn das bedeutet, auf Vorteile, wie Cumulus-Punkte oder Vergünstigungen bei der Zusatzversicherung, zu verzichten.
Man hört im Zusammenhang mit Verhalten immer wieder das Wort «Nudging». Was bedeutet das?
Nudging geht davon aus, dass unsere Situation und unser Umfeld bestimmen, wie wir uns verhalten. Ziel ist es, dieses Verhalten so zu steuern, dass es den Wünschen der «Nudgenden» entspricht. Das klassische Beispiel ist, Produkte mit höheren Preisen in Läden auf Augenhöhe zu platzieren. Der Konsument oder die Konsumentin greift eher danach, als nach jenen, für die er oder sie sich bücken oder strecken muss. An sich kann man Daten aber auch nutzen, um Menschen zur Selbstreflektion zu «nudgen», ohne, dass die Daten an Dritte weitergegeben werden. So haben etwa viele Menschen den Eindruck, nur zu besonderen Gelegenheiten Alkohol zu trinken. Registrieren sie ihr Trinkverhalten, merken sie, dass ihr Leben voller besonderer Gelegenheiten ist.
Was halten Sie von Nudges?
Ich glaube, Nudges werden überbewertet und dramatisiert. Man kann nicht nicht nudgen. Irgendetwas muss im Regal auf Augenhöhe liegen. Hinzu kommt, dass viele Nudges vor allem bei Menschen funktionieren, welche keine klare Meinung haben. Nehmen wir beispielsweise die aktuelle Organspende-Diskussion, welche vorsieht, dass jede und jeder automatisch Organspender:in wird, es sei denn, man meldet sich aktiv davon ab: Hier baut das Nudging auf der Faulheit des Menschen auf. Jene, welche aus religiösen oder sonstigen Gründen auf keinen Fall Organe spenden möchten, werden die Abmeldung vornehmen. In deren Fall wirkt der Nudge nicht.
Was ist Ihr Tipp im Umgang mit Daten?
Messwerte sind immer ungenaue Abbilder des Tatsächlichen. Bei zu grosser Datenfülle laufen wir Gefahr, nur noch Werte zu optimieren, verlieren das eigentliche Ziel aus den Augen oder erreichen gar einen unerwünschten Effekt. Bei der Erkrankung «Orthosomnie» können Leute nicht einschlafen, weil ihre Schlaf-App nicht die idealen Werte anzeigt und sie sich darüber Sorgen machen.
Dabei ist Schlaf etwas Subjektives; eine App trägt dem keine Rechnung. Ich rate deshalb, öfters zu hinterfragen, was wir wirklich alles messen müssen – sei es privat, in Unternehmen oder auch vom Staat aus. Fast noch wichtiger als die Messung ist aber, wer die Daten wofür verwenden darf. Das ist eine politische Frage und nicht einfach eine, die von der Technologie vorgegeben wird. Wir können also als Individuen und im Kollektiv mitbestimmen, wie wir Technologien nutzen wollen und sind ihnen nicht einfach ausgeliefert.
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Jakub Samochoviec, wenn Sie Murat Yakin, Kim Jong-un oder Helene Fischer eine Frage stellen könnten: Wem von den dreien würden Sie sie stellen und wie lautete die Frage?
Mich würde interessieren, ob Kim Jong-un K-Pop hört.
Dr. Jakub Samochowiec ist Senior Researcher und Speaker am Gottlieb Duttweiler Institut (GDI). Der promovierte Sozialpsychologe analysiert gesellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Veränderungen mit den Schwerpunkten Entscheidung, Alter, Medien und Konsum. In seiner Studie «Entsolidarisiert die Smartwatch?» (DE, FR und EN) befasst er sich mit der Datafizierung des Gesundheitssystems.