Wo bleibt die Frau als Mass aller Dinge?
Kolumne
Text Pauline Broccard Foto Julia Herzog, Zürich
Mein Smartphone ist mir zu gross. Obwohl eigentlich ein kleineres Modell als auch schon, kann ich es fast ausschliesslich nur mit zwei Händen bedienen. Woran das liegt? Es wurde für Männerhände designt. Für grosse Männerhände. Der Mann gilt als Standard, sein Körper als Norm. Folglich wird die Frau zum Sonderfall, zur abweichenden Variablen. Dass damit aber die Hälfte der Menschheit systematisch von Studien ausgeschlossen wird, liegt an unserer patriarchal geprägten Geschichte. Seit Generationen dominieren Männer die Wissenschaft – und fokussieren sich auf ihresgleichen. Aus Angst, der weibliche Zyklus könnte die Ergebnisse verzerren. Das einzig Verzerrte ist allerdings die daraus resultierende Repräsentation der Gesellschaft. Es entstehen signifikant geschlechterbezogene Unterschiede, die sogenannte Gender Data Gap.
Die strukturelle Benachteiligung des weiblichen Körpers und von dessen Bedürfnissen ist tief verankert: in Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesundheit. Frauen frieren im Büro, weil die Raumtemperatur auf das «ideale» Mass für den Mann abgestimmt ist. Frauen sterben öfters bei Autounfällen, weil Sicherheitsvorrichtungen sich am Durchschnittsmann orientieren. Die Journalistin und Autorin Caroline Criado-Perez erläutert in ihrem Buch «Unsichtbare Frauen» (sehr zu empfehlen!) solche Beispiele. Die Folgen dieser Datenlücke in der Medizin sind erschreckend. Bei einem Herzinfarkt verspüren Frauen nur selten angeblich «typische» Symptome wie Schmerzen in der Brust oder im linken Arm. Vielmehr leiden sie an Kurzatmigkeit oder Müdigkeit. Herzinfarkte werden bei Frauen deswegen oftmals übersehen oder falsch diagnostiziert. Dass es sich um die häufigste Todesursache bei Frauen handelt, überrascht da nicht mehr. Diagnostik basiert ebenfalls auf dem männlichen Körper, Medikamente sind für ihn dosiert. Erst dieses Jahr hat der Wissenschaftsverlag Elsevier endlich das fortgeschrittenste 3D-Modell der weiblichen Anatomie veröffentlicht. Und zwar ist es verglichen mit vorherigen Modellen komplett weiblich und nicht eine adaptierte Version des männlichen Prototyps. Auch im Jahr 2022 ist der Frauenkörper noch immer eine grosse Unbekannte. Um eine Vielfalt und Gleichberechtigung in Daten und Analysen zu erreichen, ist es dringend nötig, geschlechtersensible Forschung zu betreiben, dabei den weiblichen Körper zu integrieren – und zu priorisieren! Erst dann können wir wirklich von Objektivität sprechen.